Vorgeschichte im 16. Jahrhundert: „Polizei und Pfarrer“ in einer Polizeiverordnung 1524 von Landgraf Philipp dem Großmütigen
Im November 2004 jährte sich zum 500. Mal der Geburtstag Landgraf Philipps von Hessen, genannt der Großmütige. Zahlreiche Veranstaltungen im "Evangelischen Philipps-Jahr 2004" sowie eine Wanderausstellung des Hessischen Staatsarchivs erinnerten in diesem Jahr an den Staatsmann Philipp I., der von 518 bis 1567 die Landgrafschaft Hessen regierte und damit fast 50 Jahre lang die Geschicke des Landes lenkte. Seine Reformen damals wirken bis in unsere Zeit nach.
Als einer der politischen Köpfe der Reformation bestimmte Landgraf Philipp I. von Hessen maßgeblich die deutsche und europäische Geschichte des 16. Jahrhunderts. Im Dom zu Berlin hat man den Hessen schon vor weit über 100 Jahren mit einem Standbild geehrt: Jung und herausfordernd, gekleidet nach der neusten Mode seiner Zeit, steht er dort im Rund der zentralen Kuppel zwischen durchweg älteren Würdenträgern – gut getroffen, denn modern war er in vielfacher Hinsicht.
Fromm, bibelfest, tolerant, an das eigene Gewissen gebunden. Und eine "Polizeiverordnung"
Früh verwaist band ihn seine Mutter schon mit 13 Jahren in die Regierungsverantwortung ein. 1521 erlebte er den Reformator Martin Luther auf dem Reichstag in Worms, als der sich in Fragen des Glaubens gegen Kaiser und Kirche auf die Freiheit seines Gewissens berief, gebunden allein an Gottes Wort und die Bibel. Dieses Prinzip machte Philipp sich mehr und mehr selbst zu eigen. Fromm und bibelfest, dabei tolerant gegenüber der persönlichen Überzeugung des Einzelnen, setzte er in Konflikten auf das Gespräch und die Überzeugungskraft von Argumenten. Eine kompromisslose Verfolgung Andersgläubiger lehnte er zeitlebens ab.
Erste Spuren dieser Neuorientierung finden sich – man höre und staune – in einer Polizeiverordnung von 1524. Neben den üblichen ordnungspolitischen Bestimmungen zu Jahrmärkten, Bettelei, Gaststätten oder Brandweinausschank überrascht dort der Hinweis, Pfarrer seien daran zu „erinnern, dass sie das Volk in Evangelium und Lehre Christi, unseres Erhalters und Seligmachers, lauter und rein, treulich und christlich unterrichten“.
Glaube, Bildung und Eigenverantwortung gehören zusammen
Was veranlasste den Landgrafen zu derartigen Präventivmaßnahmen? Der evangelisch verstandene Glaube disponiert den Menschen innerlich neu. Erst das rechte Gottvertrauen ermöglicht angstfreies, eigenständiges Handeln. Dies erwächst aus dem Hören auf Gottes Wort in der Predigt und durch eigenes Bibelstudium, weshalb die Fähigkeit zu lesen ebenso wichtig ist wie die schriftgemäße Verkündigung. Und zu dieser sollten Geistliche gegebenenfalls "polizeilich" angehalten werden? Befremdlich für heutige Ohren, auch wenn die Klagen über Erziehungsdefizite und verfallende Werte uns den Sinn für eine aktive Pflege menschlicher Innenausstattung wieder geschärft haben. Unter "Polizei" verstand man damals allerdings die gute Ordnung eines Gemeinwesens an sich und weniger deren beamteten Vollzug.
Für Philipp gehörten Glaube, Eigenverantwortung und Bildung eng zusammen. Der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier wies bei einem Festakt in Kassel im Jubiläumsjahr 2004 auf das "revolutionäre Schulwesen" hin, das der Landgraf im 16. Jahrhundert auf den Weg brachte. 1527 gründete er die heute nach ihm benannte Marburger Universität. Auch die Konfirmation Heranwachsender mit einer Glaubensunterweisung im Vorfeld wurde 1539 von ihm eingeführt und nach und nach von anderen evangelischen Kirchen übernommen. Ganz Nachkomme der heiligen Elisabeth, die sich im 11. Jahrhundert beispielhaft Armer und Kranker annahm, gründete Philipp vier Landeshospitäler, die sich aus ehemaligem Klosterbesitz und dem "gemeinen Kasten", einer Art Hilfsfonds, finanzierten. Drei davon existieren heute noch. In der Steuerpolitik ging Philipp ebenfalls neue Wege, Ansätze eines allgemeinen Steuerrechts nahmen erstmals auch den Adel nicht aus. Die Kompetenz und Unparteilichkeit der Verwaltung und der Gerichte stärkte er, indem er bei Stellenbesetzungen Bildung und Fähigkeiten der Kandidaten höher veranschlagte als Herkunft und Privilegien.
Scheitern gehört dazu
Aber auch Philipp der Neuerer stieß an Grenzen. Sein Versuch, die Mehrehe gesellschaftsfähig zu machen, führte zu schwerwiegenden Verwicklungen und Rückschlägen für die Reformation. Seit 1523 verheiratet, verliebte er sich in eine Hofdame und setzte 1540 die Heirat mit ihr durch – ohne sich vorher scheiden zu lassen. Eine Scheidung konnte er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, ebenso wenig ein bei Herrscherhäusern durchaus toleriertes Konkubinat. Auf das Vorbild der Patriarchen im Alten Testament pochend trotzte er Luther die Zustimmung zu einer geheimen Heirat ab, die nicht verborgen bleiben konnte. Die Lauterkeit seiner Motive war schlichtweg nicht "kommunikabel". Bigamie stand im Reich unter schwerer Strafe und so geriet Philipp, politisch stark geschwächt, in Abhängigkeit des katholischen Kaisers.
Doch wo Schatten ist, ist bisweilen auch viel Licht. Darum tut Hessen gut daran sich dieser prägenden Zeit unter Landgraf Philipp zu erinnern. Er trat an, mit Glauben Staat zu machen und gab dem Land so einen starken Modernisierungsschub in Richtung Neuzeit.
Quelle: Evangelisches Philipps-Jahr 2004 der EKHN und EKKW (Hrsg.), Mit dem Glauben Staat machen, Hessens prägende Zeit, Landgraf Philipp der Großmütige 1504-1567, Katalog zur Wanderaustellung, Frankfurt, 2004
Wolfgang Hinz, Polizeipfarrer der EKHN von 1995 bis 2022